Dieser eine Zettel hat mich aus dem Hamsterrad geholt
Morgens war es am schlimmsten.
Nicht wegen der Uhrzeit – daran hatte sie sich längst gewöhnt.
Sondern wegen dieser Stille, die irgendwie zu laut war.
Der Kaffee war nie stark genug, die Luft im Badezimmer roch nach gestern, und die Jacke, die sie jeden Tag anzog, war an den Ellbogen leicht abgewetzt. Sie mochte sie trotzdem nicht wechseln.
Weil sie passte. Zu allem anderen.
Die U-Bahn fuhr um 7:06 Uhr. Nicht 7:05 und auch nicht 7:07.
Wenn sie 7:06 verpasste, war der ganze Tag falsch.
Also lief sie wie immer die grauen Stufen hinab, wie ein Schatten unter vielen.
Die Bahn kam. Türen zischten. Sie stieg ein.
Waggon 3. Fünfter Sitz von hinten. Fensterseite.
Sie saß nie woanders.
Nicht weil sie es mochte – sondern weil es einfacher war, nichts zu verändern.
Die Bahn ruckelte an.
Sie lehnte den Kopf ans Fenster, so wie jeden Morgen, aber nicht wirklich, denn der Zug vibrierte zu stark. Also blieb es beim fast-Anlehnen.
Der Tunnel glitt vorbei wie eine endlose Wiederholung von nichts.
Sie zählte nicht mehr mit, wie oft sie diese Strecke gefahren war.
Hundertmal. Tausend? Wahrscheinlich mehr.
Im Büro war das Licht zu hell.
Die Gespräche zu gleichgültig.
Der Bildschirm strahlte in einem Ton, den sie als Farbe nie benennen konnte – irgendwas zwischen blassem Grau und Müdigkeit.
Sie erledigte, was man ihr gab.
Arbeit, die nicht falsch war – aber eben auch nicht richtig.
Sie antwortete höflich.
Sie lächelte, wenn man es erwartete.
Sie atmete leise – und lauter wurde es nie.
Freitag war das Ziel.
Der Samstag das Versprechen.
Der Sonntag die Lüge.
Denn spätestens am Sonntagnachmittag begann der Druck von vorn – ein unsichtbarer Schatten, der sich auf ihre Schultern legte, kaum dass der Tee abkühlte.
Und trotzdem: Sie funktionierte.
Wie eine gut geölte Tür, die sich zwar öffnen ließ – aber nie in einen anderen Raum.
Dienstagmorgen.
Es regnete. Nicht stark, aber genug, um das Licht stumpf zu machen.
Sie hatte den Schirm vergessen – oder absichtlich nicht mitgenommen, das wusste sie nicht mehr genau.
Ihre Haare klebten leicht am Hals, als sie die Stufen zur U-Bahn hinabstieg.
Die Bahn kam wie immer pünktlich. 7:06 Uhr.
Sie stieg ein, ohne zu denken.
Heute war ihr Platz besetzt.
Eine junge Frau saß dort, mit viel zu lauter Musik in den Kopfhörern.
Kurz überlegte sie, den Sitz gegenüber zu nehmen – aber da stand ein Koffer.
Also wich sie aus. Ein paar Reihen weiter.
Waggon 3, Sitz 17.
Sie ließ sich in den Sitz fallen, seufzte leise, nestelte an ihrer Tasche herum.
Dann bemerkte sie die Frau neben sich.
Alt. Weißes Haar, geflochten.
Eine dieser Gesichter, die weich geworden sind, nicht zerfallen.
Sie trug eine hellgraue Jacke und einen Ring mit einem kleinen Stein, der aussah wie Nebel.
Die alte Frau sagte nichts.
Saß nur da.
Nicht neugierig. Nicht aufdringlich.
Einfach da.
Ein Lächeln – wie ein warmer Wind in einem Raum ohne Fenster.
Sie wollte wegschauen.
Wegdenken.
Aber irgendetwas hielt sie.
Nicht das Gesicht. Nicht der Blick.
Irgendetwas, das nicht in Worte passte.
Drei Stationen später stand die Frau auf.
Langsam, ruhig.
Sie nickte ihr zu – nicht wie ein Abschied. Mehr wie: Ich hab dich gesehen.
Dann verließ sie den Waggon.
Ohne Eile.
Ohne sich umzudrehen.
Und auf dem Sitz lag ein kleiner Zettel.
Gefaltet.
Kein Umschlag. Kein Name.
Zögernd griff sie danach.
Ihre Finger waren plötzlich kühl.
Sie faltete ihn auf.
Nur ein Satz, mit dunkler Tinte geschrieben:
„Was du suchst, kann nicht außerhalb von dir beginnen.“
Die Durchsage kam.
Ihre Station – in zwei Minuten.
Sie spürte das alte Ziehen in den Schultern, dieses automatische „Jetzt aufstehen“.
Aber sie blieb sitzen.
Der Zug hielt.
Die Türen zischten.
Leute stiegen aus. Neue stiegen ein.
Sie rührte sich nicht.
Eine Station. Dann noch eine.
Sie fuhr weiter.
Nicht, weil sie wusste, wohin.
Sondern weil sie wusste: So nicht mehr.
Die Welt draußen wurde leerer. Weiter.
Irgendwann tönte es aus den Lautsprechern:
„Endstation. Dieser Zug endet hier. Bitte alle aussteigen.“
Sie stand auf.
Faltete den Zettel.
Steckte ihn nicht in die Hosentasche – sondern in die Innentasche Ihrer Jacke, über ihr Herz.
Und dann trat sie hinaus.
Der Bahnsteig war leer.
Sie trat ins Licht.
Der Wind strich durch ihr Haar – erfrischend leicht, wie eine Erinnerung.
Nicht kühl. Nicht warm. Einfach da.
So, wie man früher begrüßt wurde, ohne Worte.
Die Luft roch nach etwas Grünem.
Nach feuchtem Holz.
Und nach einem Duft, den sie nicht zuordnen konnte – aber das machte nichts.
Er weckte kein Bild. Nur ein Gefühl.
Und das genügte.
Ein Vogel sang. Irgendwo.
Nur eine kurze Melodie – aber sie blieb an ihrem Ohr hängen
wie ein sanftes Wort, das man nicht behalten muss, um es zu spüren.
Die Sonne traf ihre Wange.
Dann ihre Stirn. Dann die Hände.
Sie schloss die Augen.
Und plötzlich prickelte es – auf ihrer Haut, in ihren Armen,
in diesem Punkt unter der Brust, den sie lange nicht mehr gespürt hatte.
Nicht Schmerz. Nicht Sehnsucht.
Lebendig sein.
Ich bin da, dachte sie.
Ich bin wieder da.
Nachsatz:
Manchmal beginnt Veränderung nicht mit einem Plan.
Sondern mit dem Moment, in dem du nicht mehr aussteigst,
sondern sitzen bleibst –
und spürst, dass du lebst.